Der Elefant und sein Zwilling
Kann ein Zwilling hundert Jahre später als der Erstgeborene zur Welt kommen? Was im Leben von Tieren und Menschen unmöglich ist, das gelingt der Kunst, wenn sie von moderner Technik unterstützt wird. „Makerspace“ könnte man auf Deutsch mit „schöpferischer Raum“ übersetzen oder mit „kreativer Werkstatt“ – jedenfalls hat dieses Unternehmen der Technischen Universität München einen Traum wahr gemacht. Der Traum eines Elefanten für die Krippe von Sebastian Osterrieder in St. Ursula, deren Figuren hier 1922 erstmals aufgestellt wurden und im März 1924 bei dem Schwabinger Künstler erworben wurden.
Dieser Traum, dass ein Elefant die Figurengruppe in der Krippe ergänzt, ist vor Jahren einmal von Pfarrer David Theil in die Luft gehaucht worden, so als sehnsuchtsvoller Seufzer. Dann ruhte die Idee lange. Mittlerweile wurde die Osterrieder-Krippe im Dom von Linz aufwändig restauriert, ein ausführlicher Internet-Auftritt stellt die Figuren virtuell in 360-Grad-Optik vor. Groß-Spender erhalten in Linz eine Miniatur-Figur aus dem 3-D-Drucker als Dank (mehr erfahren).
Zum hundertjährigen Jubiläum der Krippe in St. Ursula im Jahr 2022 druckte der Informatiker Markus Dichtl erste Mini-Figuren von Osterrieder in seinem häuslichen 3-D-Drucker. Die Miniatur stand in der Szene „Atelier von Sebastian Osterrieder“ auf der Werkbank des Künstlers. Und dieser kleine Hirte war sozusagen der Vorreiter für die größte Figur Osterrieders, den Elefanten.
Voraussetzung für einen modernen Druck ist eine originale Figur. Kontakte zu einer Münchner Familie, die eine große Osterrieder-Krippe mit vielen Figuren besitzt, halfen weiter. Die großzügige Leihgabe eines Elefanten machte es möglich, dass im Februar 2024 bei „Makerspace“ in Garching angefragt wurde: Wäre es möglich, die Figur einzuscannen und zu drucken? Das „Ja“ per Mail kam schnell. Aber ist es wirklich möglich, eine sehr ausdifferenzierte Elefanten-Figur, die von der Spitze des Stoßzahnes bis zum Schwanz 53 Zentimeter lang ist und vom Sockel bis zur Stirn 37 Zentimeter hoch, in einem Drucker zu fertigen?
Osterrieder hat seine Figuren aus Holz geschnitzt, dann Modeln gegossen und aus diesen Negativ-Formen wiederum Positiv-Formen aus einer flüssigen Masse gegossen. Gips, Champagnerkreide und Tierleim, vermischt mit Wasser – daraus bestehen die unverkennbaren Figuren einer Osterrieder-Krippe. Er schuf seine Gips-Figuren halb-seriell, denn jeder Beduine, jede Frau am Brunnen wurde als nackter Körper in Serie gegossen und dann individuell mit kunstvoll gefalteten, in Leimwasser getränkten Lumpen bekleidet und schließlich farbig gefasst. Große Tiere – die Kamele, Pferde und der Elefant – waren die teuersten Figuren. Die Kirchengemeinde von St. Ursula erwarb 1924 immerhin vier Kamele. Und nun, hundert Jahre später, entsteht als Zwilling eines originalen Elefanten das Begleittier des schwarzen Königs aus Afrika.
Für diesen Prozess muss die vorliegende Figur zunächst gescannt werden. Ein mobiler Scanner ist so etwas wie eine Kamera, so klein wie ein Reisebügeleisen. Sie wird mit der Hand rund um die Figur geführt. Im Augenblick des Scannens ist der kleine Ausschnitt der Aufnahme bereits auf einem Computerbildschirm sichtbar. Die Schwierigkeit ist, dass ein Elefant viele Hautfalten hat, dass er auch hinter den Ohren „fotografiert“ werden muss und ebenso unterm Bauch und unter dem Hals. Kein winziges Fleckchen darf vergessen werden, sonst hat die virtuelle Figur auf dem Computerbildschirm ein „Loch“ und ist nicht vollständig.
Eine Spezialistin hat geduldig und genau mit dem Scanner in der Hand den auf einem Drehteller gebetteten Elefanten umrundet, alle Details der Figur „eingefangen“ und auf dem Bildschirm des Computers festgehalten. Erst dann kann mit ersten Druck-Versuchen gestartet werden.
Eine erste Elefanten-Figur mit äußeren Stütz-Streben. Foto: Makerspace
Der fast fertig gedruckte Elefant wird montiert. Foto: Makerspace
Mehrere Probe-Drucke in verschiedenen Größen waren nötig auf dem Weg, eine komplette Figur zu fertigen. Auf der Entwicklung eines Fertigungs-Weges erscheinen auf der Außenseite des Tieres Stütz-Streben, die nachträglich entfernt werden müssen.
Beim Druck treten wiederum Parallelen zur Arbeit von Osterrieder zutage: Der Künstler brauchte vor hundert Jahren pro Figur viele Modeln für Vorder- und Rückseiten, für Ober- und Unterseiten – und all diese Teile wurden im Herstellungsprozess aneinander montiert. Nicht anders ist es beim modernen 3-D-Druck: Auch hier wird das gesamte Tier aus mehreren gedruckten Bauteilen zusammengesetzt, die miteinander verklebt werden.
Schließlich ist ein sorgfältiges Abschleifen der Oberfläche nötig, damit einerseits die Linien der Druck-Paste nicht mehr ins Auge fallen und andererseits die charakteristischen Hautfalten des Tieres sichtbar bleiben. Da ist geduldige Handarbeit gefragt. Zum Schluss wird die Figur mit hellgrauer Farbe grundiert. Anfang August ruht sie abholbereit in einer Schachtel.
Die Mühen der Fachleute von „Makerspace“ haben sich gelohnt: Hundert Jahre nach der Arbeit im Atelier Osterrieder in der Clemensstraße von Schwabing ist in der Universitätsstadt Garching im Norden von München ein Zwilling des Elefanten entstanden. Er ist leichter als das Original, er ist angeblich robuster als die Gips-Figur, und nur bei ganz genauem Hinschauen lassen sich winzige Details finden, die der Scanner nicht hundertprozentig genau erfasst hat. Die Zehen am Hinterbein sind etwas undeutlich, die kleine Spalte zwischen Rücken und Schwanz fehlt…
Aber wichtig ist: Die originale Größe und die Lebendigkeit des afrikanischen Elefanten, seine Bewegung mit aufgesetztem linken Vorderfuß, die leicht aufgefächerten Ohren, der eingedrehte Rüssel, die vielen Hautfalten an Bauch und Beinen – all das stimmt. Der alte und der neue Elefant, sie sind Zwillinge, die hundert Jahre trennen. Und doch bleibt jeder unverwechselbar, der originale Elefant ebenso wie die Figur aus dem 3-D-Drucker. Und das ist gut so.
Eine Frage bleibt: Wie würde Sebastian Osterrieder im 21. Jahrhundert seine Figuren produzieren? Er lebte von 1864 bis 1932 und experimentierte in seinem Schwabinger Atelier mit einer speziellen Gips-Mischung, um relativ bezahlbare Krippenfiguren in Serie herzustellen – für Pfarreien und Krippenfreunde. Er hatte gute Kontakte zu Oskar von Miller, fertigte Kamele und Dioramen für das Deutsche Museum (die dort leider im Depot ruhen). Vielleicht würde er heute seine holzgeschnitzten Figuren scannen und statt als Gips-Figur als 3-D-Druck in Serie anbieten?
Die für St. Ursula gedruckte Elefantenfigur wird nun farbig gefasst von einer Restauratorin, mit einer Satteldecke bekleidet, und hat im Winter ihren Auftritt in der Osterrieder-Krippe von St. Ursula am Kaiserplatz in Schwabing. Geplant ist, im Advent den „Aufbruch der Könige“ vor dem Stadttor von Jerusalem zu zeigen in dem Moment, als der Kamelreiter wieder den Stern entdeckt und die Karawane gen Bethlehem zieht. Und auch bei der „Anbetung der Könige“ am 6. Januar wird sich der neue Elefant einreihen zwischen die originalen Osterrieder-Kamele und das neu erworbene Pferd aus Holz. Es stammt aus einer Münchner Krippe des 19. Jahrhunderts und war bereits in der Szene „Bekehrung des Paulus“ Ende Juni 2024 zu sehen.
Der originale Elefant von Sebastian Osterrieder, der für das Abenteuer 3-D-Druck entliehen wurde, darf nach den aufregenden Monaten bei „Makerspace“ in Garching und im Atelier der Restauratorin wieder zurückkehren in seine Münchner Familie. Die wird ihn wie jedes Jahr auf den Krippentisch stellen und er wird auch dort in Begleitung von Königen, Kamelen und Pferden zum Stall von Bethlehem ziehen, zum neugeborenen König der Welt, zum kleinen Christkind.
Annette Krauß, August 2024
Weitere Informationen über die High-tech-Werkstatt mit ihren Angeboten und Kursen unter www.maker-space.de